Ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Von einem Mädchen, das nicht viel von ihrer Geschichte weiß. Wir nennen das Mädchen in der Geschichte einfach „die Kleine“.
Die Geschichte der Kleinen beginnt damit, dass sie in der Steppe geboren wurde und auf einem Bauernhof in einem kleinen Dorf lebte. Tagsüber schlief sie manchmal in einer großen Schublade in der Küche und wenn der Vater heim kam, dann lag sie auf seinem Schoß, während er aß. Sie liebte das Haus, denn dort war sie geborgen und auch die Schublade war immer so warm und weich. Und auch der Kinderwagen, in dem sie oft lag und all die Fotos betrachtete, die ihre Eltern hineinhängten, damit ihr nicht langweilig wurde. Stundenlang lag sie darin und schaute sich die Bilder an.
Oft passte ihr Bruder auf sie auf. Im Sommer stand der Kinderwagen dann draußen im Garten und ihr Bruder ermahnte seine Freunde, mit denen er spielte, nicht zu laut zu sein, damit sie nicht aufwacht. Der Garten duftete nach Blumen und Schmetterlingen und Zuhause.
Später dann, als sie älter war, naschte sie oft von tollen Süßigkeiten, die es nicht immer gab, die aber etwas sehr besonderes waren. Schokoladenquadrate, die „Schogetten“ hießen und ganz süße Erdbeeren von „Haribo“. Sie kamen immer in großen Papierkisten von ganz weit her und weil sie die Schogetten und die Erdbeeren am liebsten mochte, durfte sie sie immer für sich haben. Aus den Schogetten baute sie jedes Mal Türmchen und spielte damit wie mit Legosteinen. Zwischendurch naschte sie eins dieser Schokoladenquadrate und ihre Hände und ihr Mund waren dabei immer schokoladenverschmiert.
Alles war friedlich und glücklich. Morgens wachte sie vom Krähen des Hahnes und dem Muhen der Kühe auf und immer, wenn sie diese Tiere hörte, wusste sie: sie ist zu Hause. Geborgen.

Als sie anderthalb Jahre alt war, war der Vater oft lange weg. Und jeden Tag ging sie mit ihrer Mutter zur Bushaltestelle, um zu sehen, ob der Vater heimkommen würde. Einen Monat lang. Jeden Tag. Denn sie wussten nicht, wann er wieder zurückkommen würde.
Auf dem Weg gab es manchmal eine Kleinigkeit aus dem kleinen Markt. Etwas Süßes, etwas Leckeres.
Zu dieser Zeit war das Haus aber nicht mehr friedlich.
Es waren fremde Menschen da – wohl Verwandte – die laut waren, die schrien und gemein waren. Und es waren so viele…
An einem Tag versteckten sich ihre Mutter, ihre Brüder und sie in einem Zimmer und verbarrikadierten die Tür mit einem Schrank, weil einer der Männer so laut schrie und gegen die Tür hämmerte.
Und einige Zeit später verließen ihre Familie und sie dieses nicht mehr friedliche Zuhause mit diesen Menschen. Es entfernte sich mehr und mehr und sie kamen in einem neuen Haus an. Ein Haus mit vielen Türen und hinter einer Tür, dort wohnten sie. Bei ihrer Tante. Und auch dort wurden es immer mehr Menschen, auch wenn keiner von ihnen böse war und gegen die Türen hämmerte. Trotzdem wurde es immer lauter, immer bedrückender, immer voller, immer chaotischer. Drei Familien und drei Menschen in einer Wohnung.
Der Kleinen ging es nicht gut. Sie war krank. Sie erbrach oft. Und wieso sie dort waren, war geheim. Niemand Fremdes durfte es wissen, denn es hätte gefährlich werden können. Warum, das wusste sie damals nicht. Sie wusste ja auch nicht, wieso sie dort waren.
Und nach etwa einem Monat verließen sie auch dieses Haus. Der nächste Weg führte zum Flughafen. Aufbruch.
Nach Hause?
Nein.
Sie mussten wieder zurück. In das Haus der Tante. Für eine Nacht. Ihre Flugzeugtickets waren gleichzeitig auch an eine andere Familie verkauft worden. Sie konnten also doch erst am nächsten Tag fliegen.
Nach Hause? Sie wollte nach Hause. Warum waren sie hier? Wo war der Blumengarten? Wo ihr Haus? Wo die Küche mit der Schublade, in der sie schon lange nicht mehr schlief?
Und warum waren da so viele Menschen? Immer wieder und überall?
Auch am Flughafen wieder. So viele Menschen, so viel Chaos. Die Männer drückten die Leute auseinander, damit ihre Mutter und ihre anderen Verwandten, die auch zum Flugzeug wollten, an den Menschenmassen links und rechts und hinter ihnen und vor ihnen vorbeikamen. Die Kleine wurde über die Köpfe hinweg durchgereicht. Sie weinte und weinte und hörte nicht auf zu weinen. Alles machte ihr Angst.
Schließlich gingen sie durch eine Tür. In einen kleinen Raum. Voller Menschen. Sie hatte Durst, aber es gab nichts zu trinken. Das Wasser aus ihrem Fläschchen wurde vorher von einem fremden Mann ausgeschüttet.
In dem Raum stank es nach Zigarettenrauch – die Männer dort rauchten Eine nach der Anderen. Sie waren sechs Stunden lang darin. Irgendwann gab es ein kleines, süßes Getränk zu trinken. Ihre Eltern kauften es. Es war lecker und teuer und sie teilte es sich mit den anderen.
Nach einer halben Ewigkeit konnten sie den Raum endlich verlassen. Sie stürmten hinaus, rannten – zum Flugzeug, endlich zum Flugzeug.
Nach Hause? Gehen wir jetzt nach Hause? Wann sind wir da?
Sie saßen endlich im Flugzeug. Draußen standen hinter einem Zaun Verwandte, klammerten sich daran fest und winkten. Auf Wiedersehen. Hinter dem hohen Zaun standen auch in Grün gekleidete, uniformierte Männer mit Schusswaffen.
Und das Flugzeug hob ab. Die Kleine hörte auf zu weinen. Es gab etwas zu trinken und zu essen. Sie aß alle Portionen Fischrogen der Familie, weil sie es ihr abgaben. Es schmeckte ihr einfach zu gut. Und dann schlief sie. Seelenruhig. Nach Hause.
Irgendwann kamen sie an. Ein fremder Mann holte sie vom Flughafen ab. Die Kleine war nun knapp zwei Jahre alt und schon trocken. Aber sie machte sich auf der Fahrt in die Hose und hinterließ einen Fleck in dem Auto des fremden Mannes. Dann kamen sie wieder in eine neue Wohnung. Nicht nach Hause. Sie waren bei ihrem Onkel, ihrer Tante, ihrem Cousin und ihrer Cousine.
Ihre Mutter wusch sie ganz sparsam mit wenig Wasser, denn sie dachte, das Wasser hier sei fast unbezahlbar.
Am nächsten Tag verließen sie die Verwandten und kamen in einem „Lager“ an. Dieses Lager war ein Park mit vielen Häusern, die die Kleine später an Container erinnerten – warum auch immer – und in denen große Räume mit vielen Betten waren und auch kleinere Räume mit etwas weniger Betten.
Ihre Eltern, ihre Geschwister und sie lebten zum Glück in einem kleinen Raum mit einer anderen Frau und ihrem Sohn. Vor der Tür war ein Spielplatz. Das war gut. Es war aber immer noch nicht das Zuhause und deshalb verließen sie es nach einem Tag wieder.
Sie zogen auf einen Berg in einer kleinen Stadt. Dort lebten wieder viele Menschen. Aber hinter ihren eigenen Türen.
Es war ein Haus mit vielen kleinen Wohnungen und Räumen. In einer dieser Wohnungen lebten sie nur zu fünft, bis die Kleine eine noch kleinere Schwester bekam. Es war November. Die Kleine konnte schon kurze Gedichte aufsagen. Sie hüpfte auf einem roten Ball mit Gesicht und zwei Ohren, an denen sie sich festhielt. Draußen spielte sie mit anderen Mädchen. Malte mit Kreide auf der Straße und schlug sich das Knie am harten Asphalt auf.
Wenn Besuch zu ihnen kam, stellte sie dessen Schuhe ordentlich neben die Tür. Ein Onkel schleuderte seine Schuhe immer mit Absicht irgendwo hin und lächelte sie dabei an. Es machte ihr Spaß, sie in Reih‘ und Glied an die Wand neben der Tür zu stellen, aber sie schaute den Onkel trotzdem ganz beleidigt mit einem Schmollmund an.
Sie waren immer noch nicht zu Hause – deshalb sollten die Schuhe wenigstens hier ordentlich an der Tür stehen – und vielleicht verstand sie mit der Zeit, dass sie gar nicht mehr nach Hause gehen würden.
Bis sie einmal im Auto saß. Der Vater fuhr, die Mutter saß daneben. Hinten im Auto saß sie und neben ihr ihre kleine Schwester. Sie fuhren einen steilen Berg hoch. Sie spürte Druck in den Ohren und machte den Mund immer wieder auf, damit der Druck verschwindet.
Links und rechts waren viele Bäume. Sie bogen links ab und es roch nach Kuhdung.
Zu beiden Seiten sah sie Felder, weite Felder, bis sie in ein Dorf fuhren, an einer Kirche vorbei, immer weiter hoch. Im Radio lief „Wind of Change“ von Scorpions.
Sie gingen in ein Haus. In dem Haus war eine Familie mit einem kleinen Jungen, der älter war als sie. Die Wohnung war leergeräumt. Der Junge saß auf der Fensterbank. Die Eltern unterhielten sich. In zwei Sprachen. Die Kleine kannte beide.
Dann fuhren sie wieder zurück. Den Berg herunter. Die Ohren drückten wieder.
Sie kamen wieder in diese Wohnung und blieben dort. Das war jetzt also „Zuhause“.
Ihre Eltern hatten sich mit ihren Brüdern, ihrer Schwester im Bauch der Mutter und ihr auf eine lange Reise gemacht, hatten Zimmer um Zimmer, Wohnung um Wohnung gewechselt, bis sie diese große Wohnung auf dem Dorf fanden, in dem die Kleine mit ihrer Familie sehr lange lebte und sehr viel erlebte:
Auf einem Hügel, wo es Zauberkristalle gab, lebte der König der Löwen und auf der grünen Wiese schlüpfte Littlefoot. Unten am Fluss war das letzte Einhorn und oben am Schloss der Fuchs vom kleinen Prinzen, der sie irgendwann verließ und ihr einen Ring als Erinnerung schenkte.

In dieser Zeit vergaß sie ihre Vergangenheit. Die Erinnerung an den Steppenwind, an den Duft nach Weite, an die muhenden Kühe und die Blumen im Garten. Sie vergaß, dass ihr Cousin sie im Sommer auf einen Schlitten setzte und sie über einen Kieselweg zog. Sie vergaß, dass ihr Vater sie auf einem Motorrad durch den Hof schob. Sie vergaß, dass es diese Schogetten und diese Erdbeeren von Haribo schon einmal viel früher in ihrem Leben gab und auch, dass sie das Krähen von Hähnen schon von Geburt an kannte.
Und sie weiß es bis heute nicht. Heute ist sie eine Frau und kann sich nur noch an den Wind der Veränderung im Radio erinnern und an den Jungen auf der Fensterbank in dem großen Wohnzimmer mit dunkelgrünem Teppich.
Alles andere ist vergraben, irgendwo, und das, was sie weiß, weiß sie nur von Erzählungen und Videos, die sie sich manchmal ansieht.
Jetzt weiß sie, dass sie wahrscheinlich noch gar nicht herausgefunden hat, wo „Zuhause“ wirklich ist. Dass sie zwiegespalten ist.
Zwischen russischer und deutscher Welt.
Zwischen Glauben und Nicht-Glauben.
Zwischen Lieben und Nicht-Lieben.
Zwischen Was-muss-ich und Was-will-ich.
Zwischen staubtrockenen Steppen und saftgrünen Feldern.
Zwischen Mädchen und Frau.
Zwischen Ich und Ich.
Jetzt
ist sie auf der Suche
und über allem steht die Libelle.