Wenn man dem Publikum die Seele zeigt…

Wenn ich mich erinnere...

…braucht man eine Menge Mut.

Ich habe für Sonntag, den 14. August, meinen ganzen Mut gebraucht. An diesem Tag habe ich bei der Abschlussveranstaltung der Hörspielkirche eine Lesung gehalten, zusammen mit der Gitarristin Anika Hutschreuther – Titel: „Und über allem steht die Libelle“.
Ich möchte dir erzählen, was ich davor empfunden habe. Wie es mir währenddessen ging. Wie es mir danach ging. Und warum ich allen beteiligten Menschen so dankbar bin.

Als Herr Tiedemann mich darum bat, am 14. August eine Lesung zu halten, wusste ich sofort, dass es diesmal anders werden würde. Ich beschloss, eine Geschichte zu erzählen. Eine, die ich noch nie in der Form erzählt habe. Eine, die ich noch nie so offen nach draußen getragen habe.

Arbeiten an der Lesung: Dere Capuccino darf nie fehlen und auch nicht die ausgedruckten Seiten.Ich arbeitete mehrere Wochen oder gar Monate an dieser Lesung. Schrieb neue Texte. Neue Gedichte. Immer wieder änderte ich die Struktur, die Reihenfolge. Mein Psychoanalytiker unterstützte mich bei meinem Vorhaben, diese Geschichte zu erzählen, die für mich so schwer war zu erzählen. Seltsamerweise war es für mich mehr eine Mutprobe, diese Geschichte zu erzählen als die des „Blutenden Mädchens“, die mein Publikum schon oft zum Weinen und auch zum Entsetzen gebracht hatte.

Vielleicht war diese Kurzgeschichte immer einfacher zu erzählen gewesen, weil ich in ihr von Rahel erzählte. Nicht von dem kleinen Mädchen Julia Beresuzki. Vielleicht habe ich mich gefürchtet, die Geschichte von der kleinen Julia Beresuzki zu erzählen, weil ich selbst erst vor nicht allzu langer Zeit erfahren habe, wie sehr sich ihre Geschichte auf mich auswirkt.
Und vielleicht fiel es mir auch schwer, weil ich in all‘ meinen anderen Gedichten und Geschichten nie so offen über meine Familie und über den Zwiespalt gesprochen hatte.

Jetzt wollte ich das aber tun.

Und es war nicht leicht. Vor allem ein paar Tage vor der Lesung, als ich begann, mich doch noch – auch unter Tränen – zu fragen: Wen interessiert diese Geschichte überhaupt? In dieser Form?

Der Entschluss stand dennoch fest. Es war meine Mutprobe.

Um stark zu sein, sollte man manchmal seine Verletzlichkeit zeigen, sagte mein Psychoanalytiker.

Und ich wollte das versuchen.


Bei der Planung der Lesung tauschte ich mich mit der Gitarristin per E-Mail-Kontakt über den Ablauf aus. Schilderte ihr kurz den Inhalt meiner Texte. Sie passte die Musik an. Wir hatten uns noch nie gesehen. Ich fürchtete mich, hatte Angst, dass ich irgendwie versagen könnte – hatte ich doch bisher bei keiner meiner Lesungen mit einer Musikerin gearbeitet.
Als ich mir aber ein Stück anhörte, das sie als Höhepunkt spielen wollte, wusste ich – das klappt. Es passt. Die Musik und die Poesie, meine Geschichte – es passt zusammen.

Die Angst war natürlich dennoch nicht verschwunden. Ich war nervös wie noch nie.


Ich vor meinem Publikum in der Hörspielkirche

Am Sonntag dann ging ich eine halbe Stunde früher in die Winterkirche der St. Crucis-Kirche Bad Sooden-Allendorf.
Gekleidet wie so oft und doch passend zur Lesung. Ja, auch darüber habe ich mir Gedanken gemacht. Ein Kleid, „mädchenhaft“. Barfuß, wie immer im Sommer. Dazu trug ich aber ein Nietenhalsband, das ich sonst nie zu diesem Kleid trage. Auf meinem Rücken sah man die Libelle.

Ich betrat die Kirche:

Herzrasen.
Poch, poch, poch, poch.

Nach der Begrüßung ging ich auf und ab, wechselte zwischendurch ein paar Worte, stellte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein Mikrofon ein. (Bei meinen letzten Lesungen hatte ich keines.) Ging hinaus, starrte meine Texte an, wollte sie durchgehen. Beschloss, dass es doch nichts mehr brachte. Starrte sie wieder an. Und hörte wieder auf damit.

Herr Tiedemann fragte:

Hat sich die Angst gelegt?

Nein, ich bin immer noch so nervös und aufgeregt, sagte ich. Herr Tiedemann sagte, dass man mir das gar nicht ansehe.
Wow, ich dachte, das stehe mir in mein Gesicht geschrieben, sagte ich.

Nach dem Opener von Anika begann ich mit meinem ersten Block der Lesung. „Fünf Fragen“, ein kurzes Gedicht. Und dann „Nach Hause?“. Einer der Teile der Lesung, vor denen ich mich am meisten fürchtete.

Ich will euch eine Geschichte erzählen…

Während des Vortragens sah ich Tränen in den Augen meines Publikums. Unfassbar. Ich habe sie mit der Geschichte berührt. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich selbst musste zum Schluss des Textes fast weinen. Das musste ich weder beim Schreiben noch bei der Vorbereitung auf den Vortrag. Und da stand ich nun, vor meinem Publikum und wollte mit ihm wegen der Geschichte weinen, die von meiner Familie und mir handelte und früher eigentlich so selbstverständlich für mich war – bis vor kurzem.


Eine Unterhaltung während der Pause
Foto: Gundlach

In der Pause, nach etwa 50 Minuten des Wechselspiels von Poesie- und Gitarrenklängen, bedankten sich schon Menschen bei mir für meine Worte. Sie bedankten sich bei mir, dass ich diese Geschichte erzählte, die, wie sie sagten, auch ein Stück ihrer Geschichte war.

Der Zwiespalt zwischen zwei Ländern, zwei Kulturen – die Suche nach sich selbst. Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?

Eine Zuhörerin sagte, nachdem sie sich bei mir bedankte:

Ich denke: Vielleicht sollte man sich im Leben nicht so viele Fragen stellen.

Ich habe diesen Satz gehört, ich kann ihn erklären, aber ich verstehe ihn nicht. Mein Herz versteht ihn nicht. Ich habe mir schon immer so viele Fragen gestellt. Ich kann erst mit dem Fragen aufhören, wenn ich meine Antworten darauf habe. Aber das sagte ich nicht. Ich stimmte ihr zu, denn recht hatte sie, dachte ich.


Meine Familie in der Pause
Ich bin auch so dankbar, dass mein liebster Mann (Mitte rechts), meine Schwester (Mitte), ihr Freund (Mitte links) und meine Schwiegermama mit ihrem Freund (links und rechts) als familiäre Unterstützung gekommen sind. Meine Eltern hatte ich gebeten, nicht zu kommen, weil ich Angst hatte, in ihren Augen Tränen zu sehen, denn dann hätte ich wohl ganz bestimmt während der Lesung weinen müssen.
Foto: Gundlach

Nach der Pause folgte die zweite Hälfte der Lesung und des Konzerts. Und als ich in einem der Textblöcke von meiner Schwester und mir sprach, erinnerte ich mich beim Erzählen sehr intensiv.

Ich lachte und weinte fast, als ich erzählte, dass meine Schwester einmal fragte:

Wozu muss ich diese Buchstaben kennen? Ich bin doch auch so schön!

Es erinnerte mich so sehr an früher, an meine kleine, süße Schwester und ich war erfüllt von Liebe. Diesmal zitterte meine Stimme, aber das machte nichts. Es zeigte mein wahres Ich.
Ich war verletzlich, aber mutig.


Ich beendete meine Lesung mit einem Gespräch, das ich einmal mit Kai hatte, als ich im Hotel Martina, wo er arbeitet, saß:

Ich: Du hast eine Verrückte hier sitzen – ist dir das bewusst?
Kai: Ja. Aber meine Verrückte.

Kai, der sich auch im Publikum befand, wusste von diesem Teil nichts, und ihm stiegen Tränen in die Augen. Das Publikum lachte. Und das war schön so.


"Visitenkeilrahmen"
Wie als zusätzliche Dekoration durfte ich meine kleinen, selbst gestalteten, „Visitenkeilrahmen“ um den Blumenstrauß verteilen.
Foto: Frau Gundlach

Nachdem das Konzert und die Lesung beendet war, musste ich immer wieder nach vorne zu Anika und vor das Publikum: Applaus ernten“.
Applaus ernten ist wohl das Einzige, das ich bei einer Lesung immer noch nicht kann. Das heißt: ich mache es nicht gerne, obwohl ich mich natürlich auch freue, dass es dem Publikum gefallen hat.
Und ich war so erfreut darüber, dass das Gitarrenkonzert und die Lesung so gut zusammengepasst hatten. Das Eine hat das jeweils Andere perfekt ergänzt.


Die Projektgruppe der Hörspielkirche beschenkte Anika und mich als Dankeschön. Dabei war ich doch so sehr dankbar gegenüber der Hörspielkirche.
Denn mir wurde die Möglichkeit gegeben, eine Lesung zu halten. Mir wurde die Möglichkeit gegeben, offen über mein Inneres zu sprechen. Mir wurde die Möglichkeit gegeben, mutig und dabei verletzlich zu sein. Und mir wurde zugehört.

Ich bin durch die Reaktionen, die ich während und nach der Veranstaltung bekam, sehr berührt. Und auch die Gefühle, die ich selbst während der Lesung empfand, werde ich nie vergessen. Nach der Lesung war ich so erleichtert. Ich hatte es geschafft. Ich hatte eine Angst besiegt.

Es war für mich persönlich meine erfolgreichste Lesung bisher.
Weil ich mutig war.


Zum Abschluss ein Foto als Erinnerung
Zum Abschluss ein Foto – als Erinnerung – von Anika Hutschreuther, ihrer Gitarre und mir, umrahmt von Herrn Tiedemann, Frau Heinitz und Frau Gundlach von der Projektgruppe „Hörspielkirche“.
Foto: Gundlach

3 Kommentare

  1. Berührend…
    … wie du das hier in der Reihe nach erzählst…
    Einladend…
    … weil ich dich hiermit einlade, auch auf meinem Blog vorbeizuschauen…
    Inspirierend…
    … weil du mich zu Synergie animiert hast (vor allem in gegenseitigen Verlinkungen, wie ich es auch mit E.H. bereits mache);
    … auf gemeinsamer Welle…
    … weil in einem meiner Gedichte die Libelle schwirrt (ja sogar die Sommerlibelle!)…

    Ganz liebe Grüße aus Wien!

    1. Guten Abend lieber Franz Tieber,

      erst nach einem Monat kann ich dir auf deinen lieben Kommentar antworten – ich hoffe, du verzeihst mir das.
      Außerdem danke ich dir herzlich! Nicht nur für die netten Worte, sondern auch für deinen Hinweis auf deine Seite! Ich schaue gerne vorbei und freue mich, auch dich wieder auf meiner Seite begrüßen zu können!

      Liebe Grüße
      Julia

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